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KI als Lotse: Bessere Versorgung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen : Datum:

Seltene Erkrankungen bilden eine Gruppe mit sehr unterschiedlichen und zumeist komplexen Krankheitsbildern. Bundesweit gibt es nur eine geringe Anzahl von Expertinnen und Experten, die Menschen mit der jeweiligen Seltenen Erkrankung versorgen können.

Konzeptionelles Bild, das Visionen, Entschlossenheit und Idee darstellen soll.
Menschen, die an einer Seltenen Erkrankung leiden, durchlaufen oft einen jahrelangen Irrweg durch die medizinischen Institutionen, bis sie die richtige Diagnose oder die bestmögliche Therapie erhalten © Adobe Stock/Gajus

Dr. Johannes Schwietering ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ludwig-Maximilians-Universität München und entwickelt gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen ein KI-System, das Menschen mit Seltenen Erkrankungen bei der Diagnose und Therapiefindung unterstützt.

Ca. 472 Millionen Menschen weltweit leiden an einer Seltenen Erkrankung und trotzdem dauert es meist sehr lange bis zu einer richtigen Diagnose. Was sind die größten diagnostischen Herausforderungen?

Menschen, die an einer Seltenen Erkrankung leiden, durchlaufen oft einen jahrelangen Irrweg durch die medizinischen Institutionen, bis sie die richtige Diagnose oder die bestmögliche Therapie erhalten. Dies ist vor allem auf die hohe Anzahl verschiedener Seltener Erkrankungen zurückzuführen, was die exakte Diagnosestellung für Ärztinnen und Ärzte erheblich erschwert. So kommt es oft zu Fehldiagnosen und zum Teil schädlichen Therapieansätzen. Insbesondere bei Krankheitsbildern, die anfänglich mit unspezifischen Symptomen wie Schmerzen oder Erschöpfung einhergehen, ist die Abgrenzung zu herkömmlichen Erkrankungen sehr schwierig. In der medizinischen Praxis gibt es den beliebten Spruch: „Wenn du Hufgeklapper hörst, denk an Pferde, nicht an Zebras.“ Diese Denkweise kann für Menschen mit einer Seltenen Erkrankung schlimme Konsequenzen haben. Mit der Unterstützung von KI-Systemen ist es möglich, beim Hören von Hufgeklapper nicht nur an Pferde zu denken, sondern genauer hinzuhören und auch Zebras, Antilopen oder sogar Okapis in Betracht zu ziehen.

Ihr Ziel ist es, ein KI-System zu entwickeln, das Menschen mit Seltenen Erkrankungen bei der Diagnose und Therapiefindung unterstützt. Wie soll dieses KI-System funktionieren?

Das System kann direkt von Betroffenen über eine App oder Website genutzt zu werden. Nutzerinnen und Nutzer können ihre Symptome, medizinischen Befunde, bereits gestellte Diagnosen und unternommene Therapieversuche eingeben. Daraufhin erhalten sie eine Handlungsempfehlung. Diese Empfehlung wird in zwei Versionen bereitgestellt: eine leicht verständliche Ausführung für die Nutzenden und eine detaillierte, in medizinischer Fachsprache verfasste Version, die mit entsprechenden Studien belegt ist und beim nächsten Ärztinnen- und Arztbesuch vorgelegt werden kann.

Das System besteht technisch aus drei Hauptkomponenten: Erstens einem Modul, das sämtliche Informationen über den individuellen Pfad der Patientinnen und Patienten in einer intelligenten Datenbank speichert. Zweitens eine weitere intelligente Datenbank, die medizinisches Wissen aus Leitlinien und Studien abbildet und kontinuierlich auf dem neuesten Stand gehalten wird. Drittens ein System, das die beiden vorherigen Komponenten zusammenführt, um die zentrale Frage „Was soll ich als nächstes tun?“ zu beantworten. Die Initiative für dieses Projekt wurde durch die Entwicklung mathematischer Grundlagen angestoßen, die sich als besonders geeignet für diese Struktur erwiesen haben.

Inwiefern wird sich dieses System von einer Internetrecherche unterscheiden und verlässlichere Ergebnisse liefern?

Unser System unterscheidet sich grundlegend von einer Internetrecherche mit einer klassischen Suchmaschine wie zum Beispiel Google. Bei einer klassischen Suchmaschine können Nutzende lediglich einige Stichwörter eingeben, die sie gerade für wichtig erachten. Das ist, als würden Patientinnen und Patienten im Sprechzimmer nur einzelne Stichwörter verwenden und Ärztinnen und Ärzte keine Rückfragen stellen dürfen. Unser System entwickelt durch gezielte Rückfragen auf der Basis aktuellen medizinischen Wissens ein detailliertes Verständnis des bisherigen Pfades der Patientinnen und Patienten.

Auch die Verarbeitung der Informationen funktioniert bei uns technisch anders als bei einer klassischen Suchmaschine. Es werden keine unspezifischen Informationen oder Zeitschriftenartikel ausgegeben, die die Nutzenden verängstigen und auf eine falsche Fährte führen könnten.

Wie kann das Vertrauen von Ärztinnen und Ärzten gewonnen werden, die Informationen in ihre Diagnostik mit einzubeziehen?

Um das Vertrauen von Ärztinnen und Ärzten zu gewinnen, ist es essentiell, dass die Empfehlungen der KI nachvollziehbar und gut begründet sind. Jede diagnostische oder therapeutische Maßnahme benötigt eine Rechtfertigung – Indikation genannt – und diese Indikation muss detailliert und in medizinischer Fachsprache dargestellt werden. Unser System arbeitet transparent, erklärbar und deterministisch. Diese Eigenschaften ermöglichen es medizinischem Fachpersonal, die Argumentation hinter den Empfehlungen zu verstehen und zu überprüfen. Das schafft Vertrauen und sorgt dafür, dass die Informationen in die weitere Versorgung einbezogen werden. Zudem ist es wichtig, den fortschreitenden Wandel in der Medizin durch KI-Systeme im Blick zu behalten: Der Einsatz von computerbasierten Entscheidungsunterstützungssystemen wird in Zukunft Standard sein und Ärztinnen und Ärzte werden lernen, vertrauenswürdige Systemen zu erkennen und zu nutzen.

Inwiefern würde Ihr KI-System von der Einführung einer elektronischen Patientenakte profitieren?

Die Entwicklung der elektronischen Patientenakte ebnet den Weg für Anwendungen wie unsere. Ein großes Problem, das durch die elektronische Patientenakte gelöst wird, ist die Vereinheitlichung der Kommunikation zwischen unterschiedlichen IT-Systemen im Gesundheitswesen. Weltweit etabliert sich derzeit der Kommunikationsstandard HL7, der auch in der elektronischen Patientenakte zum Einsatz kommt. Unsere Anwendung profitiert enorm von einer solchen Standardisierung, da sie es Nutzenden ermöglicht, ihre medizinischen Daten unkompliziert und sicher in unser System einzuspeisen. Das ist ohne die elektronische Patientenakte viel komplizierter und weniger sicher.

Sie haben erfolgreich die Sondierungsphase des GO-Bio initial-Förderprogrammes durchlaufen. Wie geht es mit Ihrem Projekt nun weiter und wann erwarten Sie einen Markteintritt?

Mein Kollege Johannes Kleiner und ich brachten eine kleine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Ausbildungen in unterschiedlichen Disziplinen – darunter Informatik, Neurowissenschaften, Medizin und Mathematik – zusammen. Diese Gruppe entwickelte in ihrer Freizeit die dem Projekt zugrundeliegende Idee.

Die Sondierungsphase des GO-Bio initial Förderprogramms bot uns dann die Chance, uns ein ganzes Jahr lang intensiv mit dem Vorhaben auseinanderzusetzen. Insbesondere durch den Austausch mit Betroffenen und deren Angehörigen konnten wir sehr viel über die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten lernen. Leider wurde unser Antrag für die anschließende Machbarkeitsphase des Programms abgelehnt. Zum aktuellen Zeitpunkt kann das Projekt nicht ohne Technologietransferförderung in die wirtschaftliche Nutzung überführt werden, daher bewerben wir uns derzeit bei anderen Förderprogrammen. Unser Ziel ist es, die notwendigen finanziellen Mittel zu erhalten, um unsere Technologie zu entwickeln und Menschen mit Seltenen oder schwer diagnostizierbaren Erkrankungen unterstützen zu können.

Go-Bio initial

Mit der Fördermaßnahme GO-Bio initial fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Identifizierung und Entwicklung früher lebenswissenschaftlicher Forschungsansätze mit erkennbaren Innovationspotential. Im Rahmen der Projektdurchführung soll ein Reifegrad der Forschungsresultate erzielt werden, der eine Weiterführung in anderen etablierten Förderprogrammen der Validierungs-, Gründungs- und Firmenkooperationsförderung erlaubt.